© Papierklavier © beltz&gelberg
von Felicitas Hohmann und Svenja Blumenrath
„Irgendwo muss ja mal irgendwer damit anfangen, sich wohlzufühlen, in der eigenen Haut, im eigenen Leben, auch, wenn es nicht der Norm entspricht”, schreibt Maia, die sechzehnjährige Protagonistin aus Elisabeth Steinkellners Papierklavier in ihr Notizbuch. Damit versucht sie nicht nur, sich selbst zu finden, sondern auch mit dem Schubladendenken der Gesellschaft zu brechen.
Neben den tagebuchartigen Einträgen aus Steinkellners Feder wird in Papierklavier mit den Illustrationen von Anna Gusella erzählt, die es geradezu meisterhaft versteht, Maias Leben in Szene zu setzen: Über Skizzen und Zeichnungen, Lettering und Kritzeleien der Protagonistin tauchen die LeserInnen in Maias Gedankenwelt ein.
Immer wieder drehen sich die Einträge um die Frage, was ‚normal sein' eigentlich bedeutet. Maia stört es nicht, dass ihre Schwestern andere Väter haben als sie, den meisten Menschen scheint es jedoch anders zu gehen. Ihre Freundin Carla, auf deren Geburtsurkunde der Name Engelbert steht, hofft, sich eines Tages nicht mehr kategorisieren zu müssen: „Aber wer weiß, vielleicht kommt der Tag, an dem ich einfach ICH sein kann, Carl-Berta und Engelchen Krahvögelchen. Und niemanden juckts.” Auch, dass die zu Beginn verstorbene Oma nur eine umsorgende Nachbarin war, ändert für Maia nicht viel: „Oma Sieglinde war für uns alle ein bisschen wie eine richtige Oma”. Und nur das zählt.
Zu schaffen macht Maia außerdem die finanzielle Situation ihrer Familie. Anstelle des ersehnten Cappuccinos kauft sie lieber Äpfel und Nudeln und geht am Wochenende arbeiten, um ihrer jüngeren Schwester Klavierunterricht zu ermöglichen. Diese frühe Verantwortungsübernahme zieht sich – ebenso wie das titelgebende Papierklavier – wie ein roter Faden durch die episodenhaften Erzählungen des Buches.
Papierklavier stellt eine gelungene Aktualisierung des klassischen Adoleszenzromans dar. Der Fokus liegt nicht auf einer jugendlichen Liebesbeziehung, die hier nur angedeutet wird, sondern auf Fragmenten von Maias Alltag, in all seinen Höhen und Tiefen des Erwachsenwerdens. Tragisch-komisch hinterfragt der Text Gesellschaftskonventionen und Genderzuschreibungen und fordert die LeserInnen auf, es ihm gleichzutun: „Wo, wenn nicht hier.” meint Maia in einem ihrer Einträge, und „Wer, wenn nicht wir.”
Das Buch wurde 2021 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und mit dem österreichischen Kinder- und Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Es war außerdem für den katholischen Jugendbuchpreis nominiert, den es allerdings nach Einschreiten der Deutschen Bischofskonferenz - und ohne Angabe einer klaren Begründung - nicht erhalten durfte.
Diese Objektbeschreibung von Felicitas Hohmann und Svenja Blumenrath entstand im Sommersemester 2021 im Kontext des Seminars „Kritik und Wahrheit. Literarische Urteilsbildung in Zeiten von fake news“ unter Anleitung von Felix Giesa am Institut für Kinder- und Jugendbuchforschung an der Goethe-Universität Frankfurt.