© Dunkelnacht © Verlagsgruppe Oetinger
von Ann-Christin Stumpe und Laura Weiand
Der Zweite Weltkrieg ist nach wie vor ein unumgängliches Thema. Besonders auf dem Kinder- und Jugendbuchmarkt gibt es zahlreiche Texte, die sich mit dieser Zeit auseinandersetzen. Die von Kirsten Boie in ihrem Roman Dunkelnacht thematisierten Werwolfkommandos sind jedoch ein in der Gedächtniskultur wenig repräsentiertes nationalsozialistisches Endzeitverbrechen. Boie nimmt diese Thematik auf und vermischt sie zu einer eindringlichen Fiktion.
Der Roman spielt in Penzberg, einem „roten Dorf“ in Bayern, welches geprägt ist von dem Spannungsverhältnis zwischen den demokratischen Bewohnern der Stadt und denjenigen, die noch immer für den Endsieg kämpfen. Die Jugendlichen Gustl, Schorsch und Marie versuchen, während der dramatischen Tage kurz vor der Befreiung jeweils eigene und sehr unterschiedliche Wege durch die Tumulte zu finden. Die vielen Facetten der Geschichte sind in den Jugendlichen abgebildet: Marie ist die Tochter eines Unterstützers der Sozialdemokraten, während Gustl nahezu fanatisch versucht, den Endsieg noch zu erreichen. In einer Zeit der Beklemmung und Furcht entwickelt sich dennoch zwischen Marie und Schorsch eine empfindsame Annäherung.
Kirsten Boie erzählt die Geschichte in kurzen, mit Komma aneinandergereihten Sätzen, welche in die Gedankenwelt der Figuren eintauchen lassen und bemerkenswert die vorherrschenden Gefühle von Unsicherheit und Unruhe transportieren. Dadurch wirkt es umso eindringlicher und bedrückender, wie die Menschen erschossen und erhängt werden. Der Leser kann schlussendlich mit Schorsch mitfühlen, wenn er resümiert: „Längst haben seine Gefühle eine Hornhaut bekommen, zu viele hängen schon.“
Die Darstellung von nur anderthalb Tagen wird innerhalb des Romans minutiös, ähnlich eines Erlebnisberichts aufgezeichnet. Zur Verdeutlichung der Fiktion verwendet Kirsten Boie einen auktorialen Erzähler. Er nimmt durch seine Sichtweise aus dramaturgischen Gründen Änderungen an der wahren Geschichte vor, indem er beispielsweise eine Vollmondnacht für das Geschehen ansetzt, um so einen zusätzlichen Bezug zu den Werwolfkommandos herzustellen. Ebenso sollte durch ihn eine Distanz zu den historischen Ereignissen bewahrt werden, was aber nicht immer gelingt.
Boies Roman schafft ein differenzierteres Bewusstsein für die Grausamkeiten des Nationalsozialismus und lässt die Lesenden mit Scham und Beklemmung zurück. Mittels ihres Nachwortes ordnet Boie das Geschehen allerdings historisch ein und richtet dadurch auch einen Appell an die Lesenden: Erinnerungskultur ist nötig, um den Rechtsradikalismus angemessen bekämpfen zu können.
Diese Objektbeschreibung von Ann-Christin Stumpe und Laura Weiand entstand im Sommersemester 2021 im Kontext des Seminars „Kritik und Wahrheit. Literarische Urteilsbildung in Zeiten von fake news“ unter Anleitung von Felix Giesa am Institut für Kinder- und Jugendbuchforschung an der Goethe-Universität Frankfurt.
Boie, Kirsten: Dunkelnacht, Hamburg: Oetinger Verlag, 2021, 112 Seiten, empfohlen ab 15 Jahren.