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von Laura Bachmann
»Bin ich gleich noch jung und klein, fleißig kann ich doch schon sein.« Das sind die Worte eines Mädchens mit schwarzem lockigem Haar. Anstatt mit ihren Puppen zu spielen, steht die kleine Köchin in der Küche, wo sie – getreu ihrer Aussage – tüchtig rührt und quirlt. Als farbige Illustration ziert sie die Titelseite des Bilderbuchs Die fleißigen Mädchen. Ein Bilderbuch für die kleinste Damenwelt aus dem Jahr 1865. Auf 24 Seiten zeigen sie und ihre Kameradinnen der Leserin, dass Fähigkeiten in der Hausarbeit wichtige Voraussetzungen sind, um eine anständige Dame zu werden. So begegnet man beim Durchblättern dieses Büchleins kleinen Gärtnerinnen, Waschfräulein am Zuber und eifrigen Schneiderinnen. Neben den Tätigkeiten im Haushalt sollen aber auch die intellektuelle Bildung oder das Klavierspiel nicht vernachlässigt werden. Mit einem belehrenden Reim zu jeder Illustration ist die Intention dieses Bilderbuchs eindeutig zu erkennen: Den Mädchen soll eine klare Vorstellung von Anstand und Moral vermittelt werden.
Heute findet man in den Kinderzimmern ganz andere Bücher, in denen ein erzieherischer Gestus viel spielerischer und nicht so aufdringlich wie damals vermittelt wird. Anstandsbücher wie dieses entdeckt man nur, wenn man gezielt danach sucht: in Antiquariaten, Archiven oder historischen Sammlungen. Das Bilderbuch Die fleißigen Mädchen steht zwischen mehr als 200 anderen alten Kinderbüchern in einem recht unauffälligen Stahlschrank in der Bibliothek für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität. Doch so unspektakulär wie der Schrank, in dem es aufbewahrt wird, war die Reise, die dieses Buch hinter sich hat, bei Weitem nicht. Es ist Teil der Kinderbuchsammlung von Walter Benjamin (1892 – 1940), der sich schon immer für die fantasiereiche Welt der Kinder begeistert hatte. Nach Meinung des Philosophen haben Kinder – ähnlich wie Sammler – ein besonders inniges Verhältnis zu Büchern: Beide sehen in einem Buch nicht nur einen bloßen Gegenstand, sondern ein Wesen mit Leib und Seele, das es zu entdecken gilt. Benjamin hatte aber noch aus einem anderen Grund eine sehr emotionale Bindung zu seiner Kinderbuchsammlung: Den Anfang – so schilderte er in einer Rede über das Sammeln – bildeten zwei Alben mit Glanzbildern (Oblaten), die einst seine Mutter als Kind geklebt hatte und die ihm 1928 zufällig in die Hände gefallen waren. Von da an begab er sich auf eine Entdeckungsreise durch Anti- quariate, Leih- und Auktionshäuser, auf der er so manchen Schatz für seine Sammlung gewinnen konnte. Dazu benötigte er neben Geduld und einem ausgereiften Gespür auch jedes Mal ein Quäntchen Glück. Von besonderem Interesse waren für ihn dabei Bücher mit vielen farbigen Illustrationen, so wie dieses Exemplar. Man kann sich vorstellen, dass es ihm schwer fiel, sich von der Kinderbuchsammlung zu trennen, als diese nach der Scheidung an seine Frau Dora ging, die in Südfrankreich lebte. 1939 – ein Jahr vor Walter Benjamins Flucht und seinem Selbstmord – zog Dora mit dem gemeinsamen Sohn Stefan nach London. Nach ihrem Tod erbte dieser die Kinderbuchsammlung. Als Stefan Benjamin acht Jahre später starb, wollte die Witwe ihm einen seiner letzten Wünsche erfüllen, nämlich die Kinderbuchsammlung nach Deutschland zu geben. 1982 nahm sie deshalb Verhandlungen mit dem Institut für Kinder- und Jugendbuchforschung der Goethe-Universität auf.
Und so endete die Reise dieses Büchleins 1985 in Frankfurt am Main, 120 Jahre nach seinem Erscheinen. Die Sammlung von Kinderbüchern ist der einzig erhaltene Teil von Walter Benjamins Bibliothek, die ursprünglich über 3.000 Exemplare umfasste. Sie ist vor allem für die Walter-Benjamin-Forschung von großer Bedeutung; doch auch anderen Disziplinen kann sie als aussagekräftiges Quellenmaterial dienen.
Jetzt unternehmen Die fleißigen Mädchen, knapp 30 Jahre nach dem Ende ihrer Reise, im Zuge der Ausstellung Ich sehe wunderbare Dinge einen Ausflug in die Museumsvitrine, wo sie als Repräsentantinnen eines Erziehungsideals des späten 19. Jahrhunderts noch vielen Betrachtern zeigen können, wie ihre Wäsche „glänzend weiß wie frischer Schnee“ werden kann.
Laura Bachmann war im Sommersemester 2013 Studentin der Germanistik. Der Text entstand im Rahmen der Lehrveranstaltung der Studiengruppe „sammeln, ordnen, darstellen“ und wurde im Katalog der Jubiläumsausstellung „Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe Universität“ veröffentlicht. Dieses Objekt war in der Jubiläumsausstellung "Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität" 2014/2015 zu sehen. Der erläuternde Text wurde für die Ausstellung bzw. den begleitend erschienenden Katalog verfasst.
Theodor Brüggemann: Walter Benjamin und andere Kinderbuchsammler. Über Kinderbuchsammler und das Sammeln alter Bücher, in: Keinen Groschen für einen Orbis pictus. Ausgewählte Studien zur Kinder- und Jugendliteratur vom 16. bis 20. Jahrhundert, hg. v. Reinhard Stach, Osnabrück 2001, S. 18–37.
Ingeborg Daube: Die Kinderbuchsammlung Walter Benjamin. Eine Ausstellung des Instituts für Jugendbuchforschung der Johann Wolfgang Goethe-Universität und der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main 12. März bis 25. April 1987, Frankfurt a. M. 1987.
Klaus Doderer: Walter Benjamin und die Kinderliteratur. Aspekte der Kinderkultur in den zwanziger Jahren, Weinheim, München 1988.
Albrecht Götz von Olenhusen: Die Unsterblichkeit der Sterne. Zur Rekonstruktion von Walter Benjamins Bibliothek, in: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft, 43. Jg. 2011, 4. Quartal, Nr. 170, S. 44–52.