© Archivzentrum – Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg
von Janine Aures
Ein rechteckiger Rahmen aus einem undefinierbaren, aber in die Jahre gekommenen Material, in diesem – hinter Glas – ein schwarzes Passepartout. Darin ein achteckiges, silbrig-glänzendes Porträtfoto, das nochmals von einer feinen, goldenen Borte umgeben ist und dem durch seine schwachen Hell-Dunkel-Kontraste etwas Fragiles und Flüchtiges anhaftet. Dieser Eindruck täuscht. Das Bild ist bereits über 150 Jahre alt.
Es zeigt den Philosophen Arthur Schopenhauer (1788–1860) in einem gemusterten Armsessel sitzend. Den Kopf stützt der Porträtierte auf seine Hand. Eine möglichst entspannte Haltung, um für die Belichtungszeit von ungefähr 10 bis 20 Minuten in völliger Bewegungslosigkeit verharren zu können. Obwohl die Augen im Schatten liegen, scheint Schopenhauer den Betrachter anzublicken. Ein halbes, etwas hölzern wirkendes Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Pose, Requisiten und auch Mimik schaffen eine Atmosphäre von Intimität und Unmittelbarkeit, wie sie bei einem abendlichen philosophischen Gespräch entstanden sein könnte.
Das Bild wurde vermutlich im Juni 1852 als eines von sieben Porträts vom Frankfurter Kunstmaler Johann Schäfer (1822–nach 1855) mit einem Verfahren aufgenommen, das nach seinem französischen Erfinder Louis Jacques Mandé Daguerre (1787–1851) Daguerreotypie genannt wird. Dabei wurde eine lichtempfindliche Jodsilberschicht auf eine Kupferplatte aufgetragen und belichtet. Das so entstandene Bild wurde anschließend durch die Behandlung mit Quecksilberdämpfen entwickelt und mit Kochsalz fixiert, sodass es – anders als Fotografien – zwar lichtbeständig ist, jedoch nicht der feuchten Luft ausgesetzt werden darf.
Nach ihrer ersten öffentlichen Präsentation 1839 eroberte Daguerres Erfindung Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika im Sturm. Die im Vergleich zum gemalten Porträt ungleich kürzeren Sitzungen, die gestochen scharfen Details und die anregende Verbindung von Chemie und Optik, aus der eine neue, eine scheinbar exakte, objektive Kunstform hervorging, trugen zu ihrer wachsenden Beliebtheit bei. Andererseits war ihr großer Erfolg vor allem der Tatsache geschuldet, dass es im Bürgertum des 19. Jahrhunderts eine starke Nachfrage nach Porträtbildern gab. Um 1860 wurde die Daguerreotypie von der Fotografie aufgrund ihrer kürzeren Belichtungszeit sowie ihrer Reproduzier- und Retuschierbarkeit nahezu vollständig abgelöst.
In vielen Briefen sprach sich Schopenhauer klar für Daguerreotypien und gegen Fotografien aus, weil jene „treuer und authentischer“ seien (Brief an Julius Frauenstädt vom 10. Juni 1852, Hübscher: S. 283). Die Fotografien hingegen machten ihn immer älter, als er eigentlich sei (Brief an Julius Frauenstädt vom 6. August 1852, Hübscher: S. 289). Die Frage der Authentizität von fotografischen Abbildungen ist also im Wortsinn so alt wie die Fotografie selbst. Gleichzeitig werfen diese kurzen Äußerungen ein Schlaglicht auf Schopenhauers und den zeitgenössischen Gebrauch des neuen Mediums. Es diente vor allem der Selbstdarstellung. Schopenhauer spielte virtuos mit seinen Porträts: Indem er sie wie Belohnungen an besonders beständige und treue „Apostel“ (Brief an Julius Frauenstädt vom 30. Oktober 1851, Hübscher: S. 268) versandte, suchte er, die nicht sehr zahlreichen, aber desto frenetischeren Anhänger seiner Lehren fester an sich zu binden.
Dass es ihm sehr darauf ankam, wer wann welches Bild von ihm zu sehen bekam, zeigt sein Ärger darüber, dass der von ihm hoch geschätzte Daguerreotypist Johann Schäfer sein Porträt im Jahr 1859 ungefragt auf einer Pariser Ausstellung präsentierte. Auch die weitere Geschichte seiner Daguerreotypien – er vermachte sie gemeinsam mit vielen persönlichen Gegenständen, seiner privaten Bibliothek und einigen Autographen der Frankfurter Stadtbibliothek – deutet auf einen bewussten Umgang mit den Silberbildchen im Hinblick auf die Nachwelt hin. Franz Riedinger schrieb in einem Aufsatz über Schopenhauers Daguerreotypien: „Wir sehen ihn, wie er selbst sich gesehen hat, nicht aber, wie wir ihn gesehen hätten“ (Riedinger: S. 78). Er bezog dies auf die spiegelverkehrte Darstellung der Daguerreotypien. Diese Bilder erschienen dem Philosophen vielleicht deshalb authentischer, weil sie seinem eigenen Spiegelbild ähnlicher waren als die seitenrichtigen Fotografien. Doch der Satz lässt sich auch so verstehen, dass die Daguerreotypien, die Schopenhauer von sich anfertigen ließ, mit seiner sehr genauen Vorstellung von ihrer Verwendung konzipiert und aufgenommen wurden, um später zum Zweck der Überlieferung gesammelt zu werden. Das ist wahre informationelle Selbstbestimmung.
Janine Aures war im Wintersemester 2012/13 Studentin der Geschichte. Der Text entstand im Rahmen der Lehrveranstaltung der Studiengruppe „sammeln, ordnen, darstellen“ und wurde im Katalog der Jubiläumsausstellung "Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe Universität" veröffentlicht. Dieses Objekt war in der Jubiläumsausstellung "Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität" 2014/2015 zu sehen. Der erläuternde Text wurde für die Ausstellung bzw. den begleitend erschienenden Katalog verfasst.
Carl Gebhardt: Schopenhauer-Bilder. Grundlagen einer Ikonographie, Frankfurt a. M. 1913.
Arthur Hübscher (Hg.): Arthur Schopenhauer. Gesammelte Briefe, Bonn 1978.
Fritz Kempe: Daguerreotypie in Deutschland. Vom Charme der frühen Fotografie, Seebruck am Chiemsee 1979.
Franz Riedinger: Schopenhauers Daguerreotypie, in: Schopenhauer-Jahrbuch 34, 1951–1952, S. 74–81.