von Shagan Nersesyan
Es handelt sich um den Kopf eines bärtigen Mannes, der am Hals gebrochen ist. Der Kopf gehörte ursprünglich zu einer vollständigen Statuette, deren Unterteil sich nicht erhalten hat. Die Nasenspitze, das Haarband an der rechten Seite, die Locken, sowie die Strähnen des Bartes sind an der Oberfläche vielfach bestoßen. Der weiße Marmor ist altersbedingt vergilbt. Das fast frische Weiß des Bohrlochs an der Unterseite weist auf die spätere Entstehung der Bohrung hin. Die fast glatt abgearbeitete Fläche mit Patina am Hinterkopf lässt vermuten, dass in der Antike die Kalotte aus Stuck ergänzt worden war; entweder von Anfang an oder nach einer Beschädigung bei einer Reparatur.
Das ovale Gesicht besitzt plastisch modellierte Gesichtszüge. Über dem leicht geöffnetem Mund und der breiten Nase dominieren große wache Augen mit kräftig angegebenen Augenlidern. Die geschwollenen kontrahierten Augenbrauen sind durch eine scharfe vertikale Stirnfalte getrennt; sie geben dem Gesicht einen konzentrierten oder angespannten Ausdruck. Auch der zur linken Schulter geneigter Kopf mit dem abgewendeten Blick steigern diesen Eindruck. Die sog. Blumenkohlohren verweisen auf eine athletische Natur, denn es sind die vielfach gequetschten Ohren eines Ringers. Um den Kopf ist eine Binde geschlungen; ein Knoten ist nicht zu sehen. Der Bart setzt sich aus dicken, kurzen Locken zusammen, in denen einzelne Punktbohrungen zu erkennen sind. Weitere Bohrungen befinden sich in Ohren, Mund- und Augeninnenwinkel. Sie erhöhen die Licht-Schatten-Kontraste und lassen den Kopf plastischer erscheinen.
Die Gesichtsmodellierung und das Haltungsmotiv (s. u.) verbinden unser Marmorköpfchen mit der von Susanne Lorenz aufgestellten Replikenreihe der Heraklesstattuetten vom Typus Farnese.
Die drei Köpfe dieser Statuetten aus gebranntem Ton stellen den griechischen Heros Herakles (lat. Herkules) dar und werden allgemein in den Zeitraum des 2. bis 1. Jahrhunderts vor Christus datiert. Die durch das kleine Format eher schematisch modellierten Köpfe stimmen mit dem Frankfurter Kopf in der identischen Gestaltung des kurzen Haupthaares, des wulstigen Bartes sowie in der starken Anspannung des Halses und der leichten Kopfneigung überein. Darüber hinaus weisen die „Blumenkohlohren“ darauf hin, dass es sich bei dem Frankfurtern Köpfchen vermutlich ebenfalls um diesen griechischen Heros handelt, der mit Menschen, Giganten, Kentauren und mystischen Tieren kämpfte und viele Abenteuer bestand. Sein körperlicher Einsatz und seine enorme Kraft spiegeln sich in der Darstellung als muskelbepackter Athlet.
Unter den verschiedenen Repliken schließt sich die Frankfurter Marmorstatuette besonders an einen Terrakottakopf des Herakles (Abb. 7) aus dem Liebieghaus an (Inv. 492).
Einzeln gearbeiteten Muskelpäckchen am Nacken des Frankfurter Marmorköpfchens setzen eine bestimmte Armbewegung voraus. Eine mögliche Rekonstruktion des statuarischen Schemas kann durch Vergleiche mit anderen Heraklesstatuen vom Typus Farnese erläutert werden.
Die Rekonstruktion der antiken Entstehungsgeschichte des statuarischen Schemas des Herakles Farnese gelang dem italienischen Archäologen Enrico Quirinio Visconti im Jahre 1790. Als Ausgangspunkt nahm er die Inschrift «ΛΥΣΙΠΠOΥ EPГОN» - „Werk des Lysipp“ - an der Felsvorderseite der Replik des Herakles Statue im Palazzo Pitti in Florenz. Laut Visconti ist das Vorbild dem spätklassischen griechischen Bildhauer Lysipp zuzuschreiben, der um 320 vor Christus seine fast drei Meter große Kolossalfigur des Herakles schuf. Diese Originalskulptur ging verloren, erhalten ist jedoch eine römische Kopie des Bildhauers Glykon. Die zahlreiche kleinformatigen Heraklesstattuetten vom Typus Farnese sind in zahlreichen römischen Kopien aus dem 3. Jahrhundert nach Christus erhalten.
Durch das auffällige Format der Heraklesstattuette stellt sich die Frage nach der möglichen Funktion. Deren qualitätvolle Ausarbeitung und das relativ hohe Gewicht lassen sich eher an ein Preis- bzw. Weihgeschenk denken. Sie könnte in einem Schrein zur Verehrung aufgestellt worden sein.
Oben genannte Vergleichsbeispielen lassen sich ikonographisch unmittelbar anschließen, so das das Frankfurter Marmorköpfchen ebenfalls eine kleinformatige Wiederholung des Typus Farnese sein wird. Eine zeitlich parallele Entstehung der Köpfe ist anzunehmen. Technische Umsetzungen wie die charakteristischen Punktbohrungen lassen vermuten, dass es sich bei dem Marmorköpfchen um eine hellenistische Heraklesdarstellung des 2. Jahrhunderts vor Christus handelt.
Shagan Nersesyan war im Sommersemester 2013 Studentin der Kunstgeschichte (HF) und der Klassischen Archäologie (NF). Der Text entstand im Rahmen der Übung „Das archäologische Objekt in der universitären Sammlung“, Dozentin: Dr. Nadin Burkhardt, Tutorin: Stefanie Armbrecht, M.A.
Diethelm Krull: Der Herakles vom Typus Farnese. Kopienkritische Untersuchung einer Schöpfung des Lysipp, Frankfurt a. M. 1985, S. 158–162, 169f.
Susanne Lorenz: Verehrt als Heros und Gott – Statuen und Statuetten als Zeugnisse, in: Herakles-Herkules. Staatliche Antikensammlungen München, hg. v. Raimund Wünsche, München 2003, S. 312–327, S. 318f.
Wanda Löwe: Die Kolossalfigur des Lysipp, in: Herkules. Tugendheld und Herrscherideal, hg. v. Christiane Lukatis und Hans Ottomeyer, Eurasburg 1997, S. 23–31.
Rolf Michael Schneider: Der Hercules Farnese, in: Meisterwerke der antiken Kunst, hg. v. Luca Giuliani, München 2005, S. 136–158.