von Theresa Gessler
Was bedeutet es, im Exil eine neue Heimat zu finden und dann in die alte zurückzukehren? Der jüdische Sozialphilosoph Max Horkheimer (1895–1973), ein führender Vertreter der Kritischen Theorie der „Frankfurter Schule“, emigrierte wie viele andere Vertreter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 ins Ausland. Bis 1951 lebte und arbeitete er insbesondere in den USA. Über die Bedeutung der Exilerfahrung für die „Frankfurter Schule“ ist viel geforscht und publiziert worden. Zwei Radiomitschnitte aus dem Archivzentrum der Frankfurter Universitätsbibliothek bieten aber eine besonders eindrückliche Perspektive auf Horkheimers Erlebnisse.
Das Interview „On events leading to flight to America“ führt ein englischsprachiger Rundfunkmoderator, Sergeant King, für „operation information“, ein Programm des amerikanischen Militärrundfunks AFN (American Forces Network). Hier berichtet Horkheimer über seine Flucht nach Amerika und die Motive seiner Rückkehr. Der Beitrag „Zum gegenwärtigen Antiamerikanismus“ ist 16 Jahre später, 1967, für die Hörfunksendung „Gedanken zur Zeit“ des Süddeutschen Rundfunks entstanden. Die Sendung, hervorgegangen aus einem der ersten politischen Rundfunkformate, bot Intellektuellen Raum zur freien Stellungnahme und Horkheimer warb dort für ein anderes Verhältnis zu Amerika.
Über die Geschichte der Tondokumente lässt sich nur vermuten, dass beide Privatmitschnitte von Horkheimers Radioauftritten waren. Der erste Mitschnitt ist zwei Jahre nach Horkheimers Rückkehr an die Universität Frankfurt entstanden, vermutlich kurz nach seiner Wahl zum Universitätsrektor. Der zweite Auftritt steht wahrscheinlich bereits im Kontext der 1968er-Bewegung, der Horkheimer einen massiven Antiamerikanismus attestierte. In bereinigter Form ist der Beitrag auch in Horkheimers Gesammelten Schriften erschienen. Beide sind Teil seines Nachlasses, der in der Universitätsbibliothek Frankfurt aufbewahrt wird.
Über Horkheimers Verhältnis zur 68er-Bewegung werden regelmäßig vor allem zwei Texte zitiert, die beide ursprünglich Tondokumente waren: Die hier behandelten Ansprache zum gegenwärtigen Antiamerikanismus und der Vortrag „Karl Marx 1967 – eine notwendige Aufklärung“. Dies verwundert kaum, da tagespolitische Beiträge Horkheimers weniger in den theoretischen Schriften, als in Festansprachen und Rundfunkbeiträgen zu finden sind. Die schriftlichen Versionen dieser Texte sind für die universitäre Lehre sicherlich ein einfacheres Format, allerdings gehen mit Stimmlage und Sprechart wichtige Teile der Dokumente verloren: Wenn Horkheimer vom Gedanken an die Vereinigten Staaten spricht, wird das Ausatmen vorher zum Seufzer, die langen Reihungen (die im Schriftlichen manche Studierende stören) zu abwechslungsreichen Stilmitteln und Horkheimers langsames Sprechen das einzige, was ihn vom beständigen Rauschen eines sich überlagernden Kanals abhebt.
Obwohl die beiden Beiträge nicht zusammengehören, bilden sie inhaltlich eine klare Linie, die die Forschungen zu Horkheimers politischer Neuausrichtung nach dem Aufenthalt in Amerika unterstützen könnten. In seinem Interview betont Horkheimer zuerst die Dankbarkeit und Identifikation mit Amerika. Die ihm verliehene amerikanische Staatsbürgerschaft bezeichnet er als eines seiner wertvollsten Besitztümer. Gerade aus diesem Bewusstsein aber müsse er nach Deutschland zurückkehren: Aus Solidarität mit denen, die dort gegen die Nationalsozialisten gekämpft haben, um eine neue Studierendengeneration zu erziehen und um mit seinem guten Willen zur Völkerverständigung beizutragen. In dem Beitrag von 1967 zeigt sich bereits eine gewisse Ernüchterung, wenn er über das „alte Thema“ des Antiamerikanismus klagt. Er fordert, bei Klagen über die „unkultivierten Amerikaner“ oder den Vietnamkrieg zuerst auf das eigene Land zu reflektieren. Für ihn hängt vor dem Hintergrund seiner Exilerfahrungen auch 1967 noch die europäische Zukunft von Amerika ab. Man müsse sich Amerika und der Demokratie, die er mit dem Land identifiziert, als Bollwerk gegen den Totalitarismus „verbunden wissen“, auch wenn man Kritik übe. So endet er mit dem Zitat Churchills: „democracy is the worst form of governance – except all others.“
Obwohl beide Gespräche also den Gehalt eines wissenschaftlichen Textes haben, sind sie eben nicht nur das. Sie müssen unter Beachtung des speziellen Formats für das sie verfasst wurden, analysiert werden. Dabei müssen sie auch in den Kontext der Radioreden anderer Autoren wie Jürgen Habermas (*1929) gestellt werden, die häufig nicht transkribiert wurden. Die „Gedanken zur Zeit“ bilden einen eigenen Diskurs, der über das Universitätsarchiv in Frankfurt noch hinausweist.
Theresa Gessler war im Sommersemester 2012 Studentin der Soziologie. Der Text entstand im Rahmen einer Lehrveranstaltung der Studiengruppe „sammeln, ordnen, darstellen“.
Max Horkheimer: Zum gegenwärtigen Antiamerikanismus, in: Ders., Gesammelte Schriften, Band 13, Frankfurt am Main 1987, S. 81–83.
Clemens Albrecht: „Das Allerwichtigste ist, dass man die Jugend für sich gewinnt“: Die kultur- und bildungspolitischen Pläne des Horkheimer Kreises bei der Remigration, in: Ders. u. a. (Hg.): Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt/New York 1999, S. 97–131.