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JugendKulturArchiv – Institut für Kunstpädagogik

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Ein Schuh

Kategorien

Datierung

1980er Jahre

Maße

H 14,5 cm B 9 cm T 29 cm

Material

Leder, Stoff, Metall

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Ein Schuh

© Jugendkulturarchiv

Vom Liebhaber- zum Sammlerstück

von Anja Fröhlich

Die Wände sind in einem satten Rot gestrichen, es reihen sich Kisten und andere Dinge in den zweckentfremdeten Bibliotheksregalen. In dem knapp 10m² großen Raum ist es sehr beengt, es stapeln sich die Objekte, die teils in ganz unterschiedlichen Behältern verstaut sind. Dass das Jugendkulturarchiv sich im Moment noch im Prozess der Systematisierung befindet, ist ebenso offensichtlich wie die prekäre Raumsituation. Nur an der Seite gegenüber dem Eingang ist alles in Reih' und Glied. Schuhe um Schuhe säumen hier die Wand, ihre verschiedenen Formen, Farben und Modetrends ziehen meinen Blick magisch an. Von Flip-Flops über Chucks und Plateau-Schuhe ist jeder erdenkliche Schuh-Trend der letzten 30 Jahre vertreten. Und dort am rechten Ende eines Regals fallen mir drei Paar schwarze Schuhe ins Auge. Das schwarze Leder ist verblasst, die Schnallen sind mitgenommen, sie sehen abgenutzt aus und wurden augenscheinlich oft getragen – Anfang der 1980er Jahre von ihrer ehemaligen Besitzerin: der Leiterin des Jugendkulturarchivs Birgit Richard.

Was im Jahr 1994 mit den alten Schuhen im Gothic-Stil an der Universität Essen begann, hat seit 1997 im Kunstpädagogischen Institut der Goethe-Universität eine neue Heimat gefunden. Angefangen hat alles als Archiv für Techno und House, doch von Beginn an waren nicht allein Gegenstände aus der Techno-Szene vertreten, sondern eben auch Gothic-Gegenstände von Birgit Richard. Selbst in den 1970er und 80er Jahren ein Mitliged der Szene ist ihr Interesse an dieser ganz speziellen Form der Jugendkultur bis heute ungebrochen. Beim alljährlichen Wave-Gothic-Treffen in Leipzig, das Birgit Richard noch immer – nun aber vor allem zu Forschungszwecken – besucht, verbindet sich die private Szene-Liebhaberin mit der wissenschaftlichen Sammlerin.

Ihre Leidenschaft, nach wichtigen Gegenständen der jungen Generation Ausschau zu halten, um ein Stück Gegenwartskultur in einer beschleunigten Gegenwart zu sichern, wird aber nicht nur an den Gothic-Stücken des Jugendkulturarchivs sichtbar – die circa 600 Gegenstände reichen von der alltäglichen Produktwelt der Raver- zu Club- und Streetwear, sowie Accessoires. So verwundert es nicht, dass die Sammlung zu 85% aus Objekten besteht, die von der Leiterin selbst erworben wurden. Manche für den privaten Gebrauch – wie die Gothic-Schuhe – fanden erst später ihren den Weg in die Sammlung, andere wiederum wurden nur für das Archiv angeschafft. Das Jugendkulturarchiv ist somit auch ein ganz persönliches, in gewisser Weise autobiographisches Archiv.

Auch wenn der Zustand der Schuhe deutlich zeigt, wie gern und oft Frau Richard ihre Schuhe getragen hat, haben sie ihren Platz im Jugendkulturarchiv nicht allein deshalb verdient. In der Menge der schwarzen Gothic-Gegenstände spielen sie eine besondere Rolle, denn diese Art Schuhe wird heute kaum noch getragen. Sie sind damit zu historischen Formen geworden. Einst aus Geschmacksgründen gekauft und getragen dienen sie nun zur Dokumentation einer Kultur; vom Liebhaberstück wurden sie zum Sammlerstück. Die Gothic-Schuhe bekommen keinen „Ehrenplatz“ im Jugendkulturarchiv, gleichberechtigt stehen sie neben den Vertretern anderer Jugend(sub)kulturen. Denn Jugendkultur ist niemals einheitlich, ein geschlossenes Stilbild wäre ein bloßes Konstrukt.

Der Blick wandert wieder weiter, gleitet über die anderen Schuhe im Regal. Vorüber an von mir früher selbst getragenen Modellen, die heute als Modesünden gelten – Buffalo-Plateau-Schuhe, was habe ich mir nur dabei gedacht! – bleibt der Blick in wehmütiger Erinnerung an anderen Modellen hängen und gleitet zu den eigenen Füßen hinunter. Eine neuere, nicht weniger gern oder oft getragene Version der Chucks hat mich heute auf Gummi-Sohlen in das Jugendkulturarchiv zu einer Zeitreise getragen. Ja, das Jugendkulturarchiv von Birgit Richard ist autobiographisch, doch es ist viel mehr: es ermöglicht auch dem Besucher eine Reise in die eigene Jugende.

Anja Fröhlich war im Wintersemester 2012/13 Studentin der Geschichte und nahm an der Studiengruppe „sammeln, ordnen, darstellen“ teil; dieser Text entstand im Rahmen der Jubiläumsausstellung “Ich sehe wunderbare Dinge” und ist im Katalog erschienen. Dieses Objekt war in der Jubiläumsausstellung "Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität" 2014/2015 zu sehen. Der erläuternde Text wurde für die Ausstellung bzw. den begleitend erschienenden Katalog verfasst.

Literatur

Birgit Richard: Todesbilder. Kunst Subkultur Medien, München 1995

Birgit Richard, Jan Grünwald, Marcus Recht: Schwarze Stile und Netz-Bilder: Zu Ästhetik und den Webcommunities der Gothic und Black Metal Subkulturen, in: Heinz-Hermann Krüger (Hg.): inter-cool 3.0. Jugend Kunst Medien. S. 117-132, München 2010

Paul Hodkinson: Goth: Identity, Style and Subculture, London 2002

Ute Meisel: Die Gothic-Szene – Selbst- und Fremdpräsentation der umstrittenen Jugendkultur, Marburg 2005.

Doris Schmidt, Heinz Janalik: Grufties – Jugendkultur in Schwarz, Baltsmannsweiler 2000.