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Archiv des Fritz Bauer Instituts

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Buchseite mit hebräischen Schriftzeichen

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Signatur

SAP, FAP-1/StA-14

Datierung

gefunden im Dezember 1964

Maße

H 4,3, B 5,5 cm

Material

Papier, schwarze Druckfarbe

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Buchseite mit hebräischen Schriftzeichen

© Peter Steigerwald

Ein Souvenir aus Kanada

von Elena Frickmann

Wer in der NS-Zeit im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau inhaftiert oder in den Gaskammern ermordet werden sollte, wurde meist mit einem Vieh- oder Güterwagen dorthin deportiert. Zunächst wurden die ankommenden Häftlinge an der sogenannten Sortierrampe von einem SS-Lagerarzt selektiert, dann nahm man ihnen ihren gesamten Besitz ab, notfalls auch gewaltsam. Mit jüdischen Häftlingen ging man dabei ganz besonders streng um. Die konfiszierten Gegenstände wurden sortiert und anschließend in speziellen Baracken, den Effektenlagern untergebracht. Dabei wurde zwischen verschiedenen Kategorien unterschieden: Kleidung wurde, sofern sie noch brauchbar war für weitere neuankommende Häftlinge, verwertet, Medikamente und Lebensmittel sollten der Verpflegung der Häftlinge dienen, Geld und Wertgegenstände hingegen wurden eingelagert, nicht selten vom SS-Personal einbehalten oder aber direkt ins Reichsinnere zurücktransportiert und der Reichsbank zugeführt. Der Lagerabschnitt, in dem sich sämtliche Magazine zur Aufbewahrung der Effekten befanden, war unter den Häftlingen als Lagerabschnitt „Kanada“ bekannt. Kanada galt für viele als ein Land des Überflusses und Reichtums, weshalb sie die Baracken, in denen die Massen an Gütern lagerten, damit assoziierten. Im Laufe der Zeit übernahm selbst das SS-Lagerpersonal diese Bezeichnung.

Mit dem Vorrücken der Roten Armee und der damit bevorstehenden Befreiung des Lagers Auschwitz-Birkenau wurde dieses im Januar 1945 evakuiert. Die Baracken wurden zu einem Großteil von SS-Männern verbrannt, um alle Spuren zu beseitigen, die auf die dortigen Verbrechen hinwiesen. Dennoch tauchten in späteren Jahren speziell in dem ehemaligen Lagerabschnitt „Kanada“ immer wieder kleine Überbleibsel auf, die ihre Besitzer und auch den Brand überdauert hatten. So fand im Dezember 1964 der Staatsanwalt Hanns Großmann ein kleines Stück dieser grausamen Geschichte: Während einer Ortsbesichtigung im Rahmen des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963–1965) entdeckte er ein zusammengefaltetes, zerrissenes und stark vergilbtes Papierstück.

Vielleicht ist es vom einstigen Brand so dunkel gefärbt. Dennoch lassen sich aber eindeutig Schriftzeichen darauf erkennen. Sie sind noch immer deutlich lesbar. Es handelt sich um alt-hebräische Schrift. Die Punkte unter oder neben den Schriftzeichen kennzeichnen die Konsonanten. Da diese in einem normalen Schriftbild fehlen, könnten sie ein Hinweis darauf sein, dass es sich um ein Lehrbuch handelt, möglicherweise um ein Gebetbuch für Schüler. Das gefaltete Blatt ist so fest zusammengepresst, dass es sich zwischen den Fingern sehr dick aber dennoch trocken und zerbrechlich anfühlt. Hanns Großmann hat offenbar niemals versucht, das Blatt auseinander zu falten. Aufbewahrt hat er das Fundstück in einem privaten Fotoalbum, in dem er die vom Gericht angeordnete Dienstreise mit den Beteiligten des Prozesses ins Lager Auschwitz-Birkenau im Dezember 1964 anhand von Fotografien und „Souvenirs“ dokumentiert hat. Wären da nicht die vielen ausgeschnittenen Zeitungsartikel, die von dem Ereignis berichteten, bekäme man beim Durchblättern des Albums den Eindruck, es handele sich um eine fast gewöhnliche Urlaubsreise. Mit seinem Tod im Jahr 1999 fand das Album Eingang in das Archiv des Fritz Bauer-Instituts in Frankfurt am Main, das neben den offiziellen Gerichtsunterlagen auch private Dokumente im Zusammenhang mit den Auschwitz-Prozessen sammelt. Auch wenn das kleine, angekohlte Stück Papier keinen nennenswerten materiellen Wert hat und nicht mehr vollständig gelesen werden kann, ist es ein Dokument, das die grausame Geschichte des Ortes, der heute von so vielen Touristen besucht wird, in Erinnerung ruft.

Elena Frickmann war im Sommersemester 2013 Studentin der Curatorial Studies. Der Text entstand im Rahmen der Lehrveranstaltung der Studiengruppe „sammeln, ordnen, darstellen“.

Literatur

Wolfgang Benz, Barbara Distel, Barbara (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 5: Hinzert, Auschwitz, Neuengamme. München 2007, S. 147–162.

Tadeusz Iwaszko: Haftgründe und Häftlingskategorie – Transport, Aufnahme, Registrierung und Kennzeichnung der Häftlinge, in: Auschwitz 1940-1945. Studien zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, hg. v. Wacław Długoborski, Franciszek Piper, Band II: Die Häftlinge. Existenzbedingungen, Arbeit und Tod. Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau 1999, S. 14–43.

Hermann Langbein: Menschen in Auschwitz, Wien 1995, S. 190–216.

Andrzej Strzelecki: Der Raub der Habe der Opfer, in: Auschwitz 1940-1945. Studien zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, hg. v. Wacław Długoborski, Franciszek Piper, Band II: Die Häftlinge. Existenzbedingungen, Arbeit und Tod. Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau 1999, S. 169-213.