© Uwe Dettmar
von Franziska Kloepfer
Eine Gruppe Studenten betritt die Universitätsbibliothek durch eine Drehtür. Sie eilen schräg nach rechts, um Bücher abzuholen, oder geradeaus in Richtung der Lesesäle; einige setzen sich an einen Tisch der Lesenischen. Der Pförtner sitzt in seiner Kabine und Mitarbeiterinnen an der Informationsstelle. Sie alle nehmen die Figur, die gegenüber dem Eingang in den Raum „schreitet“, kaum wahr – trotz ihrer monumentalen Höhe von drei Metern. Die Skulptur stellt Prometheus dar, den Menschenfreund, den Stifter der Künste und Schöpfer der Menschen, der hier – von diesen unbeachtet – über sie wacht.
Ossip Zadkine, ein russisch-jüdischer Bildhauer und Maler, hat den Titanen in dem Moment festgehalten, in dem dieser den Menschen das Feuer bringt, nachdem er es den Göttern mithilfe einer List gestohlen hatte. Das Feuer ist der Figur nicht einfach als Attribut beigefügt, sondern – und das ist einzigartig unter den Prometheus-Darstellungen – als ein Teil von ihm herausgearbeitet, als sein Schicksal, mit dem Prometheus untrennbar verbunden ist. Die Flamme lodert an seiner Brust empor, wobei sie teils in seinen Körper eingeritzt, teils im Relief abgesetzt ist. Die Skulptur ist durch das Zusammenspiel verschiedener Stilelemente auf den ersten Blick schwer zu erfassen. Die Beine der Statue werden durch konvexe und konkave Formen bestimmt. Die wiederum kubischen Schultern schließt sein besonders rätselhafter Kopf ab. Er ähnelt dem oberen Abschluss einer Säule, dessen schneckenförmig gewundene Verzierung, die Volute, Prometheus’ rechtes Auge bildet. Durch den Gegensatz, der sich zwischen diesem und dem glatt ausgearbeiteten zweiten Auge bildet, erhält Prometheus einen mysteriösen und übermenschlichen Blick.
Die Skulptur wurde für die Universität als Bronzeabguss einer zehn Jahre zuvor entstandenen Figur aus Ulmenholz angefertigt. Bei der Transformation vom Material Holz in das Material Bronze verlor die Figur etwas von ihrem expressiven Charakter, wirkt grober und weniger lebendig als das Original. Sie gehört zur universitätseigenen Kunstsammlung, die vom Universitätsarchiv betreut wird und ein breites Spektrum an Kunstwerken umfasst – von Ölgemälden über Plastiken bis hin zu Möbeln. Letztere gehören zu einer der größten Ferdinand Kramer-Sammlungen Deutschlands.
Ferdinand Kramer, der Neugestalter des Campus Bockenheims nach den verheerenden Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg und damit Baumeister der Universitätsbibliothek, war es auch, der die Skulptur Zadkines in deren Eingangshalle integrierte – er kümmerte sich stets nicht nur um die äußere Gestaltung der Universitätsgebäude, sondern auch um deren Inneneinrichtung. Kramer traf sich mit Ossip Zadkine, um die Skulptur auszuwählen. Dieses Treffen nannte Zadkine ein notwendiges Ereignis, das im Sinne einer zugleich altertümlichen und modernen Philosophie Neues bewirken sollte, nämlich die Vereinigung von Kunst- und Bauwerk. Kramer selbst legte in seinen Bauplänen den genauen Standort der Prometheus-Skulptur im Foyer der Bibliothek fest, den sie bis heute innehat. Sieben Männer waren nötig, um sie hier aufzustellen. Mit ihrer Enthüllung dieses Wahrzeichens der besonderen Art wurde das Gebäude am 29. April 1965 feierlich eingeweiht.
Ein wesentlicher Unterschied zu heute besteht allerdings darin, dass eine freie Sicht auf die überlebensgroße Figur bestand, wenn man durch die Eingangstüren das Foyer betrat. Heute wird der Blick durch die Trennwand einer Leseecke versperrt, was wohl dazu beiträgt, dass der Menschenfreund erst beim Nähertreten wahrgenommen wird. Auch andere Kunstwerke, die die Gebäude und Gelände der Universität schmücken, sind inzwischen so mit ihren Standorten verschmolzen, dass sie von den an ihnen vorbei eilenden Studierenden und Mitarbeitern im Alltag schnell übersehen werden. Doch durch die Umzüge vieler Institute in Neubauten am Campus Westend und am Riedberg werden nun auch einige Stücke neu platziert und erhalten so eine ganz neue Aufmerksamkeit. So wird vielleicht auch Prometheus, wenn die Universitätsbibliothek in einigen Jahren auf den Campus Westend zieht, seine Wiederkehr feiern. Und wie einst, durch Herakles von den Bergen des Kaukasus befreit, an die Zeus ihn zur Bestrafung des Feuerraubes gekettet hatte, auf seinem Platz zurückkehren, von dem aus er über die Studenten und Lehrenden wacht und sie ermuntert eigene und neue Wege zu gehen mit der Kraft ihres Geistes.
Die Autorin war im Sommersemester 2013 Studentin der Kunstgeschichte. Der Text entstand im Rahmen der Lehrveranstaltung der Studiengruppe „sammeln, ordnen, darstellen“.
Wiederkehr des Prometheus. Zur Inauguration der neuen Stadt- und Universitätsbibliothek und der Prometheus-Statue von Zadkine Ossip am 29. April 1965, hg. vom Amt für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Frankfurt a. M. o.J.
Klaus Herding, Ottfried Schütz (Hg.): Die Kunstwerke der Goethe-Universität, Frankfurt a. M. 2002
Claude Lichtenstein: Ferdinand Kramer. Der Charme des Systematischen, Gießen 1991
Christa Lichtenstern: Ossip Zadkine (1890-1967). Der Bildhauer und seine Ikonographie, Berlin 1980
Michael Maaser: Stadt, Universität, Archiv. Das Archiv der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 2011
Edouard Roditi: Dialoge über Kunst, Frankfurt a. M. 1973