© Marketing und Kommunikation Goethe-Universität, Fotograf: Tom Stern
von Janine Aures und Silke Reich
Es ist eine einfache dunkelblaue Schachtel aus Pappe, eine unter 954 anderen in einem Regal. Alle tragen jeweils einen quadratischen, bereits leicht vergilbten Beschriftungszettel auf der Kopfseite. Auf diesem sind ein Musiktitel, der Name eines Komponisten und – in originaler Unterschrift – der eines Pianisten vermerkt. Es handelt sich um sogenannte Klavierrollen – Rollen aus Papier, auf die mittels gestanzter Löcher Musikstücke gebannt werden. Die Löcher geben, ähnlich wie bei einer Spieluhr, die Tonhöhe und die Tonlänge an. Die Rolle enthält aber auch – und darin unterscheidet sie sich von dem Prinzip einer Spieluhr – Informationen über Pedaleinsatz, Dynamik und Artikulation des Tons. Dies erlaubt es, das Spiel eines Pianisten nahezu originalgetreu aufzuzeichnen und so zu konservieren. Ein mit einem pneumatischen Mechanismus versehenes Klavier kann diese Informationen auslesen und das eingestanzte Stück zum Klingen bringen. Dabei läuft die Rolle im Klavier über einen Spalt, den sogenannten Gleitblock. Im Inneren der Pneumatik wird ein Vakuum erzeugt. Durch die Löcher im Papier kann Luft in das System einströmen, der so entstehende Druckunterschied löst – vorgegeben durch Größe und Lage des Loches – den Hammer des notierten Tones aus. Trifft dieser mit der angegebenen Intensität auf die Saite, erklingt der Ton.
Auf dem Etikett der ausgewählten Rolle sind gleich drei berühmte Namen der Musikgeschichte aufgeführt und alle stehen für Virtuosität: Franz Liszt (1811–1886), Niccolò Paganini (1782–1840) und Ferruccio Busoni (1866–1924). Die Rolle trägt eine Aufnahme von „La Campanella“, der wohl bekanntesten der Liszt´schen Paganini-Etüden, eingespielt von Busoni. Liszt sah während einer Schaffenskrise Paganini in einem Konzert und nahm sich vor, der Paganini des Klaviers zu werden. Daraufhin komponierte er diese Etüden, die in ihrer ersten Fassung unspielbar waren. Später, nachdem er mehr Erfahrung als Pianist, aber auch als Komponist gesammelt hatte, überarbeitete er die Stücke noch einmal. In dieser Version gelten sie bis heute als die schwersten der Klavierliteratur und weisen jeden Pianisten, der sie beherrscht, als Virtuosen aus.
Am Beispiel dieser Einspielung lässt sich die Besonderheit der Klavierrollen ermessen. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts steckte die Audio-Aufnahmetechnik noch in den Kinderschuhen. Doch diese Rollen, eingespielt zwischen 1907 und 1912, ermöglichten es, das Spiel eines berühmten Pianisten festzuhalten und im eigenen Wohnzimmer zu hören. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte man Werke, die aufgrund ihrer Besetzung oder ihrer Schwierigkeit nicht selbst gespielt werden konnten, nur im Konzert hören. Wurde Musik nicht live gespielt, erklang sie auch nicht. Es bestand daher ein Interesse an gerade jenen Stücken, die zwar weithin beliebt waren, sich aber nicht für das private Musizieren eigneten.
Dieser Umstand zeigt sich auch in der Zusammensetzung der Sammlung im Musikwissenschaftlichen Institut an der Goethe-Universität Frankfurt, in der sich die hiesige Klavierrolle befindet. Einen Großteil der bis 1927 hergestellten Rollen bilden Arien aus Opern und Operetten sowie Klavierbearbeitungen beliebter Lieder. Unter den Opern nehmen jene Richard Wagners mit 17 Rollen den größten Anteil ein. Wenig überraschend sind auch die anderen häufig vertretenen Komponisten wie Bach (18), Mozart (20), Brahms, Grieg, Schumann und Schubert (23). Werke von Beethoven finden sich auf insgesamt 67 Rollen, aber der mit Abstand am häufigsten vertretene Komponist ist Franz Liszt mit 80 Rollen.
Die Sammlung setzt sich aus 898 Rollen mit klassischen Werken und 56 Rollen mit Unterhaltungsmusik zusammen und spiegelt den Musikgeschmack des frühen 20. Jahrhunderts wider. Es lassen sich jedoch viele weitere Fragen stellen: Warum wurden gerade diese Künstler rezipiert? Wie wirkt sich die Möglichkeit der Aufnahme von Musik auf diese aus? Wie spielte Busoni Klavier? Wie interpretierte man Bach? Die Klavierrollen ermöglichen die sinnliche Erfahrung von Musik, fernab theoretischer Schriften. Die Beschreibung einer Aufführung kann, wie die Beschreibung eines Bildes, nie das Werk selbst erfassen, da sich einige Ebenen der Sprache entziehen. Diesen Einblick gewähren diese Rollen.
Im Sommersemester 2013 war Janine Aures Studentin der Geschichte und Silke Reich Studentin der Musikwissenschaft. Der Text entstand im Rahmen der Jubiläumsausstellung „Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe Universität“ und wurde im Katalog veröffentlicht. Dieses Objekt war in der Jubiläumsausstellung "Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität" 2014/2015 zu sehen. Der erläuternde Text wurde für die Ausstellung bzw. den begleitend erschienenden Katalog verfasst.
Detlef Altenburg, Axel Schröter: Franz Liszt, in Musik in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Ludwig Finscher, Personenteil Bd. 11, Kassel u. a. 2004, Sp. 203–311.
Jürgen Hocker: Faszination Player Piano. Das selbstspielende Klavier von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bergkirchen 2009.
Jürgen Hocker: Mechanische Musikinstrumente, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Ludwig Finscher, Sachteil Bd. 5, Kassel u.a. 1962, Sp. 1710–1742.
Herbert Jüttemann: Mechanische Musikinstrumente. Einführung in Technik und Geschichte, Köln 20102, S. 17–20, 99–111, 249–266.
Siegfried Wendel: Datenspeicher-Musikinstrumente, Reichesheim am Rhein 2002, S. 80 f.