© Peter Steigerwald
von Elena Frickmann
Beim Durchblättern des Albums mit der wenig aufschlussreichen Beschriftung »Lichtbildmappe« könnte man meinen, man schaue in das private Fotoalbum einer deutschen Familie in den 1930er-Jahren. Handschriftlich wurden mit Bleistift Jahreszahlen unter jedem Foto notiert, die meisten Bilder sind nummeriert. Es sind größtenteils Schwarz-Weiß-Fotografien, Familienaufnahmen mit Kindern, festlich gekleidete Paare, vielleicht an ihrem Hochzeitstag, stolze Männer in Uniformen oder neben ihrem Auto posierend und seriös wirkende Passbilder. Stutzig wird man erst bei jenen Fotografien, die vereinzelte Personen erst frontal und dann im Profil zeigen, wie man es von erkennungsdienstlichen Aufnahmen von Straftätern kennt. Doch genau darum ging es ausnahmslos bei all diesen Fotografien: Sämtliche hier abgebildeten Personen galten als Beschuldigte in den sogenannten Frankfurter Auschwitz-Prozessen. Die ersten drei Strafprozesse gegen Angehörige der Lagermannschaft des nationalsozialistischen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau fanden 1963 bis 1965, 1965 bis 1966 und 1967 bis 1968 in Frankfurt am Main statt. Weitere Prozesse folgten in den 1970er-Jahren.
Innerhalb der Ermittlungsverfahren wurde diese Lichtbildmappe zur Vernehmung von Zeugen verwendet, die anhand der verschiedenen Bilder die Mitglieder der Lagermannschaft des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau und somit die Täter identifizieren sollten. Da die Taten und die sie verhandelnden Prozesse zeitlich so weit auseinanderlagen, hatten die Zeugen oft Schwierigkeiten, die Täter auf eigens für die Prozesse angefertigten Fotografien zu erkennen. Deshalb musste auch auf private Aufnahmen zurückgegriffen werden, die sich mit dem Zeitraum der Straftaten deckten. Zusammengestellt wurde die Lichtbildmappe vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg, da das Verfahren zunächst in Stuttgart begann. Der Hauptanteil der gesammelten Fotos stammt laut dem Archivleiter des Fritz Bauer Instituts, Werner Renz (*1950), aus den Personalunterlagen der SS-Angehörigen, die in einem von den Amerikanern verwalteten Archiv in Berlin aufbewahrt wurden, dem Berlin Document Center. Ein anderer Teil geht auf Recherchen des Landeskriminalamts zurück oder wurde während der Ermittlungsverfahren zu erkennungsdienstlichen Zwecken aufgenommen.
Unter den hier Abgebildeten befinden sich auch Personen, die im Zuge der Nachkriegsgeschichte große Aufmerksamkeit erfuhren und die sich mithilfe des angehängten Registers anhand der unter den Fotografien notierten Nummern bis heute identifizieren lassen. Die Fotografien mit der Nummer 36 zeigen zum Beispiel den deutschen Arzt Josef Mengele (1911 – 1979). Mengele, der 1938 am Frankfurter Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene promovierte, war von 1943 bis 1945 als Lagerarzt im Konzentrationslager Auschwitz stationiert und führte dort die Selektionen der ankommenden Transporte durch. Große Bekanntheit erlangte er im Rahmen der Auschwitz-Prozesse, in deren Verlauf seine grausamen Taten öffentlich gemacht wurden. Der zweifellos gut aussehende Mann, der hier so charmant und einnehmend aus dem Album lächelt, galt als äußerst brutal und kaltblütig, wenn es um den Umgang mit Lagerinsassen ging, an denen er unter dem Deckmantel der Forschung menschenunwürdige medizinische Experimente durchführte. Trotz seiner Bekanntheit schaffte er es jedoch, bis zu seinem Tod versteckt in Südamerika zu leben und damit einer Verurteilung zu entgehen. Der wohl größte Preis, den er dafür zahlte, war der Verlust seiner Familie.
2009 überließ die Staatsanwaltschaft zu Dokumentations- und Forschungszwecken zwei dieser Lichtbildmappen dem Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main. Neben ihrer historischen Bedeutung für die Frankfurter Auschwitz-Prozesse und ihrem erkennungsdienstlichen Zweck in diesem Kontext zeigen jene Mappen eine Realität, die beim Gedanken an NS-Verbrecher oftmals ausgeklammert und diesen auch nur ungern zugestanden wird: nämlich deren Leben als Ehemänner und Väter. Schwierig gar zu begreifen ist die Tatsache, dass die Mörder tausender Menschen, die Familien brutal auseinanderrissen und zerstörten, oftmals selbst liebende Familienmenschen waren.
Elena Frickmann war im Sommersemester 2013 Studentin der Curatorial Studies. Der Text entstand im Rahmen der Lehrveranstaltung der Studiengruppe „sammeln, ordnen, darstellen“ und wurde im Katalog der Jubiläumsausstellung „Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe Universität“ veröffentlicht. Dieses Objekt war in der Jubiläumsausstellung "Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität" 2014/2015 zu sehen. Der erläuternde Text wurde für die Ausstellung bzw. den begleitend erschienenden Katalog verfasst.
Ulrich Völklein: Josef Mengele. Der Arzt von Auschwitz, Göttingen 1999.
Irmtrud Wojak (Hg.): „Gerichtstag halten über uns selbst...“ Geschichte und Wirkung des ersten Auschwitz-Prozesses, Frankfurt a. M. 2001, S. 43–60.