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von Anja Fröhlich
Dass er einen Comic, eine Bilder-Geschichte, in den Händen hält, merkt der Leser erst nach einigen Seiten. Denn von außen lässt nichts den bilderreichen Inhalt erahnen: Ein Buch mit Hardcover und einem Leinen-Rücken, die ersten Seiten könnten ebenso vor einem Roman stehen, es entspricht nichts dem Klischee des Comic-Heftchens, das sich Kinder für wenig Geld am Kiosk um die Ecke kaufen.
Genauer handelt es sich hier nicht um ein Comic-Heft, sondern eher um einen Comic-Roman, auch Graphic-Novel genannt. Dieser hat scheinbar wenig mit dem wesentlich älteren Comic-Format, dem Piccolo-Heft, gemein, das im Frankfurter Comic-Archiv nur ein paar Regale weiter in Archivkästen lagert. Der Graphic-Novel macht sich auch in einem Bücherregal gut, er ist salonfähig. Seine Themen sind vielfältig und vielschichtig, er sucht sein Publikum auch in älteren Zielgruppen.
Seit zwei Jahrzehnten erfährt das Comic-Angebot diese Wendung von der Kinder- und Jugendliteratur hin zur Allgemeinliteratur. Die Bezeichnung „Graphic Novel“ wird zumeist wenig präzise verwendet. Erstmals hat sie der Comic-Autor Will Eisner 1978 als Untertitel für sein Werk „A Contract with God and other Tenement Stories. A Graphic Novel“ benutzt und 1985 in seinem analytischen Lehrbuch „Comics and Sequential Art“ näher erläutert. Er charakterisierte damit nicht eine Gattung, sondern das grafische Erzählen im Allgemeinen. Heute wird der Begriff relativ beliebig verwendet, zum Beispiel für alle nicht in Heftform erschienen Comics. Es herrscht Verwirrung.
„Graphic Novel“ ist dabei auch, vielleicht sogar vor allem, ein Kampfbegriff, der den künstlerisch ambitionierten Comic, den „guten Comic“, ausweisen soll. Damit soll er deutlich vom „primitiven“ Comic-Heft, dem immer noch das Schund-Image der 1950er und 60er Jahre anhaftet, unterschieden werden. Man traut dem Comic nun, in der an das Buch angelehnten Form des „Graphic Novel“ zu, brisante historische, politische und gesellschaftliche Themen aufarbeiten zu können.
So tut dies auch Marjani Satrapis „Persepolis“. Der originelle Stil der Zeichnerin erinnert an Linol- oder Scherenschnitt, sie arbeitet mit der Flächenwirkung von Schwarz und Weiß, einer Gratwanderung zwischen Tag und Nacht. „Persepolis“ lebt von der engen Einheit zwischen Stil und Inhalt. Satrapis Autofiktion vom Leben und Aufwachsen der Protagonistin Marji während und nach der islamischen Revolution erzählt von Indoktrination, Folter und Exil. „Persepolis“ verdeutlicht, dass die Gattung Comic die literarischen Maßstäbe, die zunehmend an sie angelegt werden, nicht zu fürchten braucht.
Dies zeigt sich auch in der Wissenschaft: War für eine Beschäftigung mit Comics lange Zeit kein Platz an der Universität, so wird der Comic-Roman in letzter Zeit auch für die Germanistik interessant. Es werden Veranstaltungen zu Bildgeschichten und Comics angeboten, Lehrende und Lernende können dabei die umfassende Sammlung des Comic-Archivs am Institut für Jugendbuchforschung nutzen, der kontinuierlich weitere Werke hinzugefügt werden. Das Comic-Archiv ist die erste und derzeit umfangreichste Comic-Sammlung einer deutschen wissenschaftlichen Bibliothek. Ein großer Teil der Sammlung besteht aus Belegexemplaren der Verlage, daneben erhält sie ihre Objekte auch aus Stiftungen, von Privatsammlern und Unternehmen. Außerdem werden gezielt, wie es bei „Persepolis“ der Fall war, Neuerscheinungen von Werken angefordert. Man ist im Comic-Archiv um eine größtmögliche Vollständigkeit im Hinblick auf die deutschsprachigen Publikationen bemüht. Während der Besucher zwischen den engen Gängen der Regalen wandelt, ziehen über 50 Jahre deutschsprachige Comic-Geschichte an ihm vorüber. Nur wenige Meter trennen hier Donald Duck, Obelix und Co. von Marji. So unterschiedlich sie auch sein mögen, hier sind sie Nachbarn im Comic-Archiv der Goethe-Universität.
Anja Fröhlich war im Wintersemester 2012/13 Studentin der Geschichte. Der Text entstand im Rahmen der Lehrveranstaltung der Studiengruppe „sammeln, ordnen, darstellen“.
Alfred Clemens Baumgärtner: Die Welt der Comics. Probleme einer primitiven Literaturform, Bochum 1965.
Bernd Dolle-Weinkauff: Comics – Geschichte einer populären Literaturform in Deutschland seit 1945, Weinheim und Basel 1990.
Bernd Dolle-Weinkauff: Vom Kuriositätenkabinett zur wissenschaftlichen Sammlung. Das Comic-Archiv des Instituts für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität Frankfurt/Main, in: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde. Neue Folge XIX, 2005, S. 209–224.
Andreas C. Knigge: Fortsetzung folgt. Comic-Kultur in Deutschland. Frankfurt am Main, Berlin 1986.
Günter Metken: Comics, Frankfurt am Main 1970.