© Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg
von Marie Vorländer
Als eine „romantische Schwärmerin von empfindsamen, stark melancholischen Zügen“ bezeichnete das „Deutsche Dichterlexikon“ 1963 Karoline von Günderrode (1780–1806). Das Zitat zeigt deutlich, wie die Frankfurterin vielfach auch heute noch wahrgenommen wird: als Dichterin der Romantik, doch gleichsam als tragisch zerrissene Frauengestalt, die ihrer Zeit voraus und damit zum Scheitern verurteilt war. Darin steckt die gesamte Problematik der Günderrodeschen Rezeption. Die Auseinandersetzung mit ihrem Werk ist geprägt von der biographischen Auslegung, von ihrem frühen Tod durch Suizid, ihren unglücklichen Liebesbeziehungen und ihrem Leiden an dem Frauenbild ihrer Zeit. Beachtung finden vor allem die Gedichte und Dramen. Die weiteren Schriften, die sich mit Themen wie Philosophie, Geographie, Religion, Mythologie und Naturwissenschaften auseinandersetzen, blieben aber bislang weitgehend unbeachtet – so auch in der ersten Veröffentlichung ihrer Werke durch Leopold Hirschberg (1867–1929), der die Aufnahme der Exzerpte und weiterer naturwissenschaftlicher Studien für nicht erforderlich hielt. Diese erste Werkausgabe ermöglichte der Literaturwissenschaftler Ludwig Geiger (1848–1919), er spürte den Nachlass Günderrodes 1895 auf und kaufte ihn. Seine Erben veräußerten diesen wiederum 1938 an die Stadtbibliothek Frankfurt. Darauf basiert die 1990-1991 erschienene „Historisch-Kritische Werkausgabe“ von Walter Morgenthaler (*1946), in der zum ersten Mal auch das hier beschriebene Konvolut abgedruckt wurde.
Dabei handelt es sich um ein doppelblättriges, fadengebundenes Heft mit Exzerpten. Diese setzen sich mit der Temperamentenlehre, Physiognomik und Phrenologie (Schädellehre) auseinander. Die erste Lage des Heftes besteht aus einem Doppelblatt, von dem jede Seite einem Temperament gewidmet ist – dem Phlegmatiker, dem Sanguiniker, dem Choleriker und dem Melancholiker. Dies entspricht der antiken Vorstellung der Temperamentenlehre, die die Grundzüge des menschlichen Charakters auf die unterschiedliche Verteilung der das ganze menschliche Sein bestimmenden vier Säfte im Körper zurückführte: Phlegma, Blut, gelbe Galle und schwarze Galle. Neben die Beschreibung von physiologischen und charakterlichen Eigenschaften dieser vier Typen hat Günderrode jeweils ein Gesichtsprofil gezeichnet, das dessen jeweilige äußerliche Erscheinungsform abbildet. Die Zeichnungen zeigen bereits die Einflüsse der zu dieser Zeit immer populärer werdenden Physiognomik von Johann C. Lavater (1741–1801): Die geläufigen charakterlichen Merkmale ergänzend, tritt als Kennzeichen der unterschiedenen Temperamenttypen die Physiognomie des Gesichtes hinzu.
Lavaters „Von der Physiognomik“ bestimmt auch die darauffolgenden Lagen des Heftchens. Vergleicht man Lavaters Theorie mit den Aufzeichnungen Günderrodes, so wird schnell deutlich, dass sie seine Gliederung übernommen hatte. Wie Lavater beschrieb sie die Bestandteile des Gesichts von oben nach unten – mit dem Unterschied, dass Günderrode detaillierter und umfassender auf die einzelnen Elemente einging. Sie skizzierte die unterschiedlichen Formen der einzelnen Gesichtselemente, ergänzt durch die Aufzählung der charakterlichen und moralischen Qualitäten.
Und noch eine weitere, viel diskutierte Lehre der Zeit nahm Günderrode in ihre Exzerptsammlung auf: In die dritte Lage wurden nachträglich Doppelblätter mit Schädelskizzen eingelegt, die auf den Anatomen Franz Joseph Gall (1758–1828) und dessen Schädellehre zurückgeführt werden können. Gall ging von einem engen Zusammenhang zwischen Schädel- beziehungsweise Gehirnform und Charakter aus und versuchte geistige Eigenschaften und Zustände bestimmten Hirnarealen zuzuordnen.
Daneben erstellte Günderrode auch Kopfstudien, deren Vorlage bislang jedoch nicht bekannt ist. Auf der Rückseite des Heftes befindet sich in Bleistift der Entwurf eines Gedichts. Da die Schrift sehr undeutlich ist und viele Korrekturen enthält, lassen sich jedoch nur schwer inhaltliche Bezüge zum restlichen Konvolut herstellen. Dennoch deutet sich in dieser materiellen Nähe von Literatur und Wissenschaft die romantische Idee der Vereinigung aller Künste und Wissenschaften an. Die romantische Poesie wird als Universalpoesie begriffen, eine Verschmelzung von Natur- und Kunstpoesie, wie sie Friedrich Schlegel verkündete. Die bislang so wenig wahrgenommenen wissenschaftlichen Arbeiten Günderrodes unterstreichen daher noch, dass ihr Werk ganz im Zeichen der Romantik steht.
Marie Vorländer war 2014 Studentin der Germanistik. Der Text entstand im Rahmen der Jubiläumsausstellung „Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität“ und wurde im Katalog veröffentlicht. Dieses Objekt war in der Jubiläumsausstellung "Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität" 2014/2015 zu sehen. Der erläuternde Text wurde für die Ausstellung bzw. den begleitend erschienenden Katalog verfasst.
Karoline von Gründerrode: Sämtliche Werke und ausgewählte Studien. Historisch-kritische Ausgabe, 3 Bde., Hg. v. Walter Morgenthaler, Basel, Frankfurt a. M. 1990-1991.
Johann Caspar Lavater: Von der Physiognomik und hundert physiognomische Regeln, hg. v. Karl Riha, Carsten Zelle, Frankfurt a. M., Leipzig 1991.
Sigrid Oehler-Klein: Die Schädellehre Franz Joseph Galls in Literatur und Kritik des 19. Jahrhunderts, Stuttgart, New York 1990.
Nicolas Pethes: Poetik/Wissen. Konzeptionen eines problematischen Transfers, in: Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, hg. v. Gabriele Brandstetter, Gerhard Neumann, Würzburg 2004, S. 341–373.