© Wolfgang Schiller, Institut für Geowissenschaften
von Sascha Staubach
Salz, eines der wichtigsten Nahrungsmittel, wird meist in Bergwerken abgebaut. Geht es dabei aber immer so sauber zu, wie man es bei diesem sensiblen Produktionszweig erwarten sollte? Das vorliegende Objekt, ein Stück Steinsalz aus einem Berchtesgadener Salzberg, lässt zunächst daran zweifeln.
Chemisch handelt es sich bei Steinsalz um eine Verbindung der Elemente Natrium (Na) und Chlor (Cl) im Verhältnis 1:1. Wenn sich diese Elemente verbinden, also beispielsweise aus einer Lösung auskristallisieren, ordnen sie sich von selbst immer abwechselnd in einem rechtwinkligen, schachbrettähnlichen Muster an. Dies führt letztendlich zu der für uns sichtbaren, rechtwinklig-würfeligen Form der entstehenden Kristalle. Dem genauen Beobachter fällt auf, dass bei diesem Steinsalz aus der Geowissenschaftlichen Sammlung der Goethe-Universität einige Kristalle von dieser typischen, idealen Würfelform abweichen. Sie zeigen zusätzliche Flächen, die den Eindruck entstehen lassen, der Würfel habe seine Ecken verloren. Diese acht Flächen, je eine pro Ecke, bilden für sich alleine genommen die Form eines Oktaeders (griech. Achtflächner). In Verbindung mit dem Würfel (Kubus) spricht man hier von einem Kuboktaeder. Die Reste der Würfelflächen bilden auf der Spitze stehende Quadrate, die parallel zu den Würfelflächen der darunter sitzenden Kristalle liegen. Da die Ecken des Würfels nicht nachträglich entfernt worden sein können, muss diese spezifische Form des Steinsalzes während seines Wachstums entstanden sein. Es existiert also offenbar ein Stoff, der genau auf die Ecken des wachsenden Kristalles passt und diese blockiert, wodurch keine weitere Anlagerung von Natrium und Chlor mehr möglich ist. Auf den Kristallflächen geht das Wachstum jedoch ungehindert weiter, bis die neue Schicht an der Kante wieder auf die Blockade stößt.
Woraus besteht nun diese Blockade, welcher Stoff führte zu der beschriebenen kristallographischen Anomalie? Um diese nachzuvollziehen, muss man die Gegebenheiten am Fundort der Salzkristalle in die Beobachtung einbeziehen. Das Salz stammt aus der Lagerstätte Berchtesgaden, die bereits seit der Jungsteinzeit eine der wichtigsten Quellen für Salz in Mitteleuropa ist. Das Vorkommen entstand im Zeitalter des Zechsteins, vor circa 257 bis 251 Millionen Jahren, als ein flaches Meeresbecken mehrfach hintereinander austrocknete und die im Wasser enthaltenen Salze eine dicke Schicht am Boden bildeten. Im Laufe der Zeit, unter anderem bei der Auffaltung der Alpen, wurden diese Salzschichten teils intensiv mit den sie begleitenden tonreichen Nebengesteinen vermengt und verunreinigt.
Für die Salzgewinnung muss man das Gestein mit Süßwasser auslaugen, wobei salzige Sole entsteht und die tonigen und sandigen Verunreinigungen im Berg zurückbleiben. Die Sole wird über Rohrleitungen einer Saline zugeführt, wo man durch Verdampfen des Wassers reines Speisesalz erhält. Die aus Leckagen austretende Sole bildet in den Stollen naturgemäß viele Pfützen und Tümpel, in welchen bei langsamer Verdunstung neue schöne, große Salzkristalle entstehen. Diese Pfützen werden aber auch aus anderer Quelle gefüllt: Da die Stollen im Berchtesgadener Salzberg mehrere Kilometer lang sind und der Weg ins Freie somit weit ist, erleichtert sich so mancher Bergmann lieber direkt „vor Ort“. Und in dieser Beobachtung liegt die Lösung des kristallographischen Rätsels um das Stück Steinsalz: Das im Urin gelöste Salz, ebenfalls hauptsächlich Natriumchlorid (NaCl), unterscheidet sich chemisch nicht von dem des Gesteines. Der Störenfried ist allerdings der Harnstoff. Er setzt sich auf die Ecken und blockiert das Kristallwachstum in dieser Richtung.
Warum weisen aber nur wenige Kristalle diese Deformation auf? Die deformierten Kristalle sitzen alle auf einer Seite, fast in einer Ebene. Dies war die Oberseite der Stufe, die nahe der Wasseroberfläche lag. Da Urin leichter ist als die gesättigte Salzlösung, ist die Konzentration von Harnstoff an der Oberfläche der Pfütze am höchsten. Die Kristalle aus tieferen Schichten konnten davon unbeeinflusst weiter ihre rein würfelige Form ausbilden.
Gelangte also Urin in die Nahrungsmittelproduktion? Nein! Da die Sole aus diesen Restpfützen der Speisesalzproduktion nie zugeführt wurde, bestand auch zum „Tatzeitpunkt“ kein Anlass, von einem Lebensmittelskandal zu sprechen.
Sascha Staubach ist Doktorand der Geologie. Der Text entstand im Rahmen der Jubiläumsausstellung „Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität“ und wurde im Katalog veröffentlicht. Dieses Objekt war in der Jubiläumsausstellung "Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität" 2014/2015 zu sehen. Der erläuternde Text wurde für die Ausstellung bzw. den begleitend erschienenden Katalog verfasst.
Paul E Smith: The effect of urea on the morphology of NaCl crystals: a combined theoretical and simulation study, in: Fluid Phase Equilibria, 2010 Volume: 290, Issue: 1-2, S. 36–42.
A J. Retze: The force of crystallization of sodium chloride and its dependence on the solvent. Zeitschrift für Kristallographie und Mineralogie, 1912; 49, S. 152–192.
Neda Radenovic: The role of impurities on the morphology of NaCl crystals: An atomic scale view, PhD Thesis, Radboud University Nijmegen, The Netherlands.
Marc Meunier: Industrial Applications of Molecular Simulations, Boca Raton 2012.