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von Johanna Rumpeltes
Eine Abbildung des weiblichen Körpers, aufgeklebt auf eine Buchseite, die beinahe einen halben Meter in der Höhe misst. Die einzelnen Körperteile sind in Form von Kupferstichen exakt abgebildet. Der rechte Fuß des Frauenkörpers fällt besonders auf, denn er steht ein wenig ab. Bei näherer Untersuchung lässt sich die Oberfläche des Frauenkörpers zur Seite klappen. So kommt das Adernetz zum Vorschein, das seinerseits wegzuklappen ist und dann die Sicht auf weitere übereinander geklebte Papierschichten mit Abbildungen des menschlichen Körpers freigibt. Angetrieben von seiner Neugier, bewegt sich der Betrachter durch den menschlichen Körper. (Papier-)Schicht für (Papier-)Schicht dringt er immer weiter in das menschliche Innere vor, legt Adern, Nervenbahnen und Organe frei – wie ein Anatom, der bei einer Sektion den menschlichen Körper erforscht.
Der Frauenkörper findet sich mit vielen weiteren aufklappbaren Körperdarstellungen im Anatomielehrwerk „Kleiner Weltspiegel“ aus dem ersten Drittel des 17. Jahrhunderts. Sein Autor, Johannes Rümelin (auch Johann Remmelin), wurde 1583 in Ulm geboren. Schon bald nach seiner Promotion zum Doktor med. in Basel 1607 ließ er die anatomischen Tafeln von dem Augsburger Kupferstecher Lukas Kilian (1579–1637) nach seinen Entwürfen anfertigen, um sie 1619 schließlich im „Weltspiegel“ herauszugeben. Zu allen Tafeln gehört ein ausführliches Register mit den jeweiligen Bezeichnungen der Organe, Knochen und Muskeln in lateinischer Sprache. Ein begleitender Fließtext setzt die dargestellten Körperteile miteinander in Beziehung und erläutert ihre Funktionen. Rümelins Tafeln und Texte fanden großen Anklang: Im 17. und 18. Jahrhundert erschienen zahlreiche Nach- und Raubdrucke des „Weltspiegels“ in lateinischer, deutscher, englischer und holländischer Sprache.
Ein deutsches Exemplar – 1632 von Johannes Rümelins Sohn Johann Ludwig übersetzt und herausgegeben – ist heute in der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg im medizinisch-naturwissenschaftlichen Altbestand der ehemaligen Senckenbergischen Bibliothek einzusehen. Den Grundstock dieser einzigartigen Sammlung naturwissenschaftlicher Werke vom 15. bis 19. Jahrhundert bildete die 1763 gestiftete Privatbibliothek des Frankfurter Arztes Johann Christian Senckenberg (1707–1772). 1850 mit anderen Bibliotheken Frankfurter naturwissenschaftlicher Bürgervereine vereinigt, wuchs sie bis 1907 auf rund 75.000 Bände an. Die historischen Bestände der alten Unterhaltsträger werden heute als Dauerleihgabe in der Universitätsbibliothek aufbewahrt. Die Provenienz des „Weltspiegels“ weist so auf die Geschichte der Bibliotheken und des Bürgerengagements in Frankfurt am Main hin und damit weit über die Geschichte der Anatomie und ihrer Darstellung hinaus.
Die Erforschung der menschlichen Anatomie ist jedoch weit älter als der „Kleine Weltspiegel“. Seit der Antike ist sie Teil der Medizin und fiel seit dem späten Mittelalter mit dem Interesse bildender Künstler an der exakteren Darstellung der menschlichen Proportionen zusammen. Grundlegend für wissenschaftliche und künstlerische Fortschritte waren die seit dem 14. Jahrhundert vollzogene Sektionen des menschlichen Körpers. Rümelin fasste das aktuelle anatomische Wissen seiner Zeit zusammen und ordnete es im „Weltspiegel“ in das christliche Weltbild seiner Zeit ein. Schon der Titel „Weltspiegel“ weist auf die Verortung des Menschen in der göttlichen Schöpfung und auf seine Symbolhaftigkeit als „Spiegel“ des gebärenden und sterbenden Kreislaufs der Schöpfung hin. Der vollständige Titel des Werks verrät noch mehr: „Das ist Abbildung göttlicher Schöpfung an des Menschen Leib, mit beigesetzter schriftlicher Erklärung – sowohl zu Gottes Weisheit als des Menschen selbst Erkandenus [Erkenntnis] dienend.“ Biblische Darstellungen unterstreichen diese Zielsetzung, ebenso wie Bibelzitate, die zum maßvollen Streben nach Wissen mahnen und an die Endlichkeit des Lebens erinnern. Der „Weltspiegel“ beeindruckt so nicht nur mit seinem außergewöhnlichen didaktischen Konzept und seinen künstlerisch hochwertigen Drucken, sondern weist auf die untrennbaren Bezüge zwischen Wissenschaft und historischen wie weltanschaulichen Kontext hin.
Die Autorin war 2014 Doktorandin der Geschichte. Der Text entstand im Rahmen der Jubiläumssaustellung „Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe Universität“ und wurde im Katalog veröffentlicht.
Kurt W. Becker: Anmerkungen zur Geschichte der anatomischen Sektion, in: KunstOrt Anatomie, Saarbrücken 2002, S. 7–14.
Johann Ludwig Choulant: Geschichte und Bibliographie der anatomischen Abbildung nach ihrer Beziehung auf anatomische Wissenschaft und bildende Kunst. Nebst Auswahl von Illustrationen nach berühmten Künstlern, Leipzig 1852.
Wolfgang U. Eckart: Geschichte der Medizin, Berlin, Heidelberg 2005.
Walther Pfeilsticker: Johannes Rümelin, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 22, 1929, S. 174–188.