© Marketing und Kommunikation Goethe-Universität, Fotograf: Tom Stern
von Till Landzettel
Welche Möbel stehen in Ihrer Wohnung? Glauben Sie, dass man in der Erziehung der Kinder ganz ohne Prügel auskommen kann? Wie verbringen Sie am liebsten Ihren Abend? Welcher Partei gehören Sie an? Und...
...was haben diese Fragen gemeinsam? Sie alle stammen aus der Studie „Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches – Eine sozialpsychologische Untersuchung“, die der Philosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm (1900–1980) 1929 veranlasste. Zu dieser Zeit leitete er die Abteilung Sozialpsychologie am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Den Hauptteil der Studie bildete ein Fragebogen aus 271 Fragen. Sie sollten an Arbeiter und Arbeiterinnen gerichtet, deren subjektive Aussagen über ihre Lebenswelt sowie ihre Einstellungen aufzeichnen und so auf empirische Weise die Psychoanalyse Sigmund Freuds (1856–1939) und die Gesellschaftstheorie Karl Marx´ (1818–1883) miteinander verbinden und das Verhältnis von sozio-ökonomischem Status und politischem Handlungsbewusstsein erforschen. 3300 Fragebögen wurden ausgeteilt, bis 1931 waren 1100 davon ausgefüllt wieder im Besitz des Instituts. Heute liegen in dessen Archiv noch rund 550, als älteste dort gelistete Objekte.
Die gut sortierten Mappen geben mittlerweile brüchig gewordenes Papier preis, voll von durchnummerierten Fragen, deren Abstand zueinander genug Platz ließ für die handschriftlichen Antworten. Anschließend folgen die quantitative Auswertung in Tabellen sowie umfassende Einschätzungen Fromms zur Bedeutung der Ergebnisse. Zur Entstehungszeit der Studie wurden Fragebögen selten als empirische Methode verwendet, noch dazu in derartigem Umfang. Auch dass Arbeiter/-innen als speziell umrissene Gruppe zu ihren Ansichten befragt wurden, war zum damaligen Zeitpunkt eine Besonderheit. Unter anderem erklärt die noch stark marxistisch-materialistisch geprägte Ausrichtung des Instituts dieses Unterfangen.
Dass einige Teile des auszuwertenden Materials in englischer Sprache verfasst sind, ist eng mit dem Inhalt der Studie verknüpft und gibt zugleich Aufschluss über den Verlust so vieler Fragebögen: Das Institut wurde 1933, wenige Monate nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, geschlossen. Nahezu alle Mitarbeiter/-innen emigrierten in die Vereinigten Staaten von Amerika, unter ihnen auch Fromm, der das heute noch vorhandene Material mitnahm und die Auswertung der Studie in Amerika fortführte.
Doch es waren die bereits in Deutschland ausgearbeiteten, inhaltlichen Ergebnisse, die den Angehörigen des Instituts die Notwendigkeit einer baldigen Emigration verdeutlichten. Zwar stuften sich die Teilnehmer/-innen der Studie, nach ihrer politischen Gesinnung befragt, zu 26% als Kommunisten/-innen, zu 45% als Sozialdemokraten/-innen und nur zu 3% als Nationalsozialisten/-innen ein. Der Ton der beantworteten Fragen alarmierte jedoch die Mitarbeiter/-innen Fromms. Insbesondere die Untersuchung „autoritärer Persönlichkeitstypen“, die ebenfalls im Zuge der Studie entstand, dürfte hierbei von Bedeutung gewesen sein. Sie hielt fest, dass es zwar „für die autoritäre Haltung charakteristisch ist, das eigene Leben einer höheren Macht unterzuordnen, sich selbst als absolut schwach oder als Werkzeug einer höheren Macht zu empfinden“, gleichzeitig diese Haltung aber dazu tendiere, „Schwächere zu beherrschen und sie in derselben Abhängigkeit zu halten, in der man sich selbst vom Stärkeren fühlt“ (Bonß/Fromm: S. 236).
Diese und andere Überlegungen, die im Verlauf der Studie entwickelt wurden, sorgten mit dafür, dass die Institutsmitglieder rechtzeitig Vorkehrungen zu ihrer Emigration und der Verlegung des Instituts treffen konnten. Im Exil fuhr Fromm mit der Analyse der Studienresultate bis 1939 fort, dem Jahr, in welchem er sich aufgrund persönlicher Differenzen vom Institut trennte. In der Folgezeit kam die Arbeit an den Fragebögen gänzlich zum Erliegen und wurde auch später niemals abgeschlossen. Erst 1980 veröffentlichte Wolfgang Bonß (*1952) gemeinsam mit Erich Fromm das bereits vorhandene Material als „Rekonstruktion“ dieser sozialpsychologischen Untersuchung, die als erste explizite Untersuchung zum Nationalsozialismus innerhalb der frühen Kritischen Theorie Einblicke in die subjektive Verfassung unterschiedlicher Wählergruppierungen gab.
Wenngleich die Studie unvollständig blieb, brachte sie eine Fülle von Antworten hervor, deren Auswertung die Frage der Vereinbarkeit zweier großer theoretischer und politischer Strömungen fokussierte. Die wichtigste Antwort ergab sich jedoch, ohne dass ihre entsprechende Frage in den Unterlagen überhaupt auftaucht: Ob und wann es nötig sei, zu emigrieren.
Till Landzettel war 2014 Student der Philosophie. Der Text entstand im Rahmen der Jubiläumsausstellung „Ich sehe wunderbare Dinge“ und wurde im Katalog veröffentlicht. Dieses Objekt war in der Jubiläumsausstellung "Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität" 2014/2015 zu sehen. Der erläuternde Text wurde für die Ausstellung bzw. den begleitend erschienenden Katalog verfasst.
Wolfgang Bonß, Erich Fromm: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches, Stuttgart 1980.
Carsten Schmidt: Der autoritäre Charakter. Erich Fromms Beitrag zu einer politischen Psychologie des Nationalsozialismus, Berlin, Münster 2009.
Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, München 1986.