© Archäobotanische Vergleichssammlung
von Petra Hülsen-Öhring
Goethe-Universität Frankfurt am Main, 6. Stock, Raum 6.501: In ein Mikroskop wird der Objektträger mit der Nummer 113 eingelegt. 25-fach vergrößert, erinnert das mit dieser Nummer bezeichnete Präparat an ein hübsches Textilmuster aus Seerosenblättern – doch den Menschen, die das Objekt betrachten, steht der Sinn nicht nach Ästhetik. Sie stehen unter Druck, die Zeit läuft. Sie kennen die Nummer des Präparates, aber was sie brauchen, ist sein Name, und auf den kommen sie nur, wenn sie das abgebildete Muster exakt analysieren und die richtigen Schlüsse daraus ziehen: Denn die Betrachter sind Studenten, die im Rahmen ihrer archäobotanischen Praktikumsprüfung europäische und tropische Hölzer zu bestimmen haben. Sie tun dies anhand der Lehrsammlung mikroskopischer Holzdünnschnitte, die circa 60 Gehölze umfasst und durch die Holzbibliothek (Xylothek) ergänzt wird. Ein Dünnschnitt ist ein Holzscheibchen, das fein genug ist, um von einem Lichtmikroskop durchstrahlt werden zu können. Hergestellt wird der Dünnschnitt mit dem sogenannten Mikrotom, das ein wenig wie eine komplexere Version einer Brotschneidemaschine aussieht. Seine extrem scharfe Einwegklinge schneidet aus vorher genau definierten Arealen des Holzes hauchdünne Scheibchen einer Stärke von circa 25 Mikrometern. Zur Präparation werden sie anschließend mit Eau de Javel entwässert, mit einer Mischung aus Kaliumhypochlorit und Kali- umchlorid gebleicht, mit Safranin rötlich eingefärbt und in einer aushärtenden Substanz eingebettet.
Für die Holzbestimmung relevant und nebeneinander auf dem Objektträger angeordnet sind der Querschnitt (quer zur Stammachse) sowie der Tangential- und der Radialschnitt (beide entlang der Stamm- achse). Anhand des Vorhandenseins, der Art und Anordnung bestimmter Holzbestandteile wie der Gefäße, Fasern, Holzstrahlen oder des Parenchyms – der Speicherzellen – ist die Identifikation und Benennung eines Baumes oder Strauches möglich. So fallen im abgebildeten Querschnitt des Präparats Nummer 113 die sehr großen, ovalen Gefäße des gleich an die Jahresringgrenze anschließenden Frühholzes auf; die ebenfalls ovalen Spätholzgefäße sind zahlreich und ganz klein. Nur Laubbäume besitzen Gefäße; könnte es also ein Stück Eichenholz sein? Ein Blick auf weitere Merkmale sowie auf den Tangentialschnitt ergibt: Nein – die Nummer 113 bezeichnet Castanea sativa, die Edel- oder Esskastanie.
Die Bestimmung von Hölzern ist eine wichtige Voraussetzung für die Dendrochronologie, eine Methode zur absoluten Datierung von Holzfunden im Rahmen archäologischer Grabungen: Anhand der Jahresringabfolge, die das Stammholz in Form einer Baumscheibe oder eines Bohrkerns aufweist, lässt sich das Alter des Holzes im Idealfall bis auf das Jahr genau ermitteln.
Eine weitere wichtige Funktion kommt der Holzbestimmung beim Erforschen der kulturellen Nutzung von Bäumen und Sträuchern zu. So ist unsere Nummer 113, die Edelkastanie, ein prominenter Vertreter der hiesigen Kulturbäume; durch Großreste wie Früchte und Holzkohle ist sie zwar erst für das Mittelalter nachweisbar, durch die Pollenanalyse jedoch bis in die römische Antike datierbar. Mit dem Vordringen der Römer in das Gebiet ihrer späteren Nordprovinzen ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. kamen nach und nach vielfältige Nutzpflanzen mediterranen Ursprungs in unsere Breiten, darunter die Edelkastanie. Als Brennholz weniger geeignet, lieferte sie mit ihren Früchten, den Maronen, eine schmackhafte Zutat zu Gerichten. So wird im Apicius-Kochbuch De re coquinaria aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. ein Rezept für »Linsen mit Kastanien« beschrieben, das sogar noch den heutigen Geschmack treffen könnte. Die Kastanie soll auch ein sehr brauchbares Zaun- oder Stangenholz im Gemüseanbau abgegeben haben: Denkbar, aber bisher unbewiesen, ist daher die Verwendung der Kastanie als Rebpfahl für den ebenfalls von den Römern importierten Wein. Wer weiß – vielleicht stützte ja ein Vorfahr des Lieferanten von Präparat Nr. 113 einst eine Moselwein-Rebe?
Petra Hülsen-Öhring war im Sommersemester 2013 Studentin der Geschichte. Der Text entstand im Rahmen der Lehrveranstaltung der Studiengruppe „sammeln, ordnen, darstellen“ und wurde im Katalog der Jubiläumsausstellung „Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe Universität“ veröffentlicht. Dieses Objekt war in der Jubiläumsausstellung "Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität" 2014/2015 zu sehen. Der erläuternde Text wurde für die Ausstellung bzw. den begleitend erschienenden Katalog verfasst.
Dietger Grosser: Die Hölzer Mitteleuropas. Ein mikrophotographischer Lehratlas, Remagen 1977.
Stefanie Jacomet, Angela Kreuz: Archäobotanik. Aufgaben, Methoden und Ergebnisse vegetations- und agrargeschichtlicher Forschung, Stuttgart 1999.
Karl-Heinz Knörzer, Brigitte Beyer: PflanzenSpuren. Archäobotanik im Rheinland. Agrarlandschaft und Nutzpflanzen im Wandel der Zeiten, Köln 1999.
Jutta Meurers-Balke, Tünde Kaszab-Olschewski: Grenzenlose Gaumenfreuden. Römische Küche in einer germanischen Provinz, Mainz 2010.
Mary Ella Milham (Hg.): Apicii decem libri qui dicuntur de re coquinaria et excerpta a vinidario conscripta, Leipzig 1969.