© Barbara Voss, Institut für Archäologische Wissenschaften
von André Luiz Ruivo Ferreira Burmann
»Das ist doch nur ein Stein.« So begegnete man mir und anderen Faustkeilen bis vor nicht allzu langer Zeit. Ab 1838 gelang es jedoch allmählich, ein differenzierteres Bild von uns zu verbreiten, als der Geologe Charles Lyell (1797 – 1875) das vom Hobbyarchäologen Jacques Boucher de Perthes (1788 – 1868) postulierte steinzeitliche Alter von Faustkeilen bestätigen konnte.
Zusammen mit 281 weiteren Faustkeilen sowie einer Vielzahl anderer Steinartefakte wie Schaber, Kratzer, Klingen und Mikrolithen befinde ich mich in der Lehrsammlung der Abteilung Vor- und Frühgeschichte Afrikas am Institut für Archäologische Wissenschaften im 7. Stock des IG-Farben-Hauses der Goethe-Universität. Wir dienen vor allem der Lehre.
Um 2008/09 kam ich an die Universität – als Stiftung eines Sammlerehepaares, das jahrelang Reisen in die Sahara unternommen und archäologisches sowie ethnologisches Material gesammelt hatte. Wann und wo wir uns begegneten, weiß ich leider nicht mehr. Dass ich – wie die meisten der gesammelten Artefakte – an der Oberfläche lag, ist aber bekannt. Zudem bin ich mit Zahlen und Buchstaben jüngeren Datums versehen, darunter auch Koordinaten, die auf meinen Auffindungsort im nördlichen Niger hinweisen.
Allgemein fallen wir unter die Kategorie Steinartefakte, also vom Menschen bearbeitete Steine, die unter anderem als Werkzeuge gedient haben. Meine Art wird Faustkeil genannt, wohl aufgrund der faustdicken und keilähnlichen Form. Die Definition – ein beidseitig flächenretuschiertes Gerät mit spitz-ovalem Querschnitt, einer wenig bearbeiteten, breiten und verdickten Basis, scharfen Kanten und einer sorgfältig zugerichteten Spitze – bezieht sich sozusagen auf unseren kleinsten gemeinsamen Nenner, denn de facto existieren variantenreiche Formen und Typen.
Wir Faustkeile stellen die ältesten standardisierten Werkzeuge der Menschheit dar. Zu meinem genauen Alter kann ich keine Angaben machen. Jedoch haben einige meiner Art die Zeit nach ihrer Nutzung unter Tage verbracht und konnten somit von Forschern anhand datierbarer Bodensedimente, in denen sie die Zeit überdauerten, einem Zeitraum zugeordnet werden, der der Kulturepoche des Acheuléen entspricht. Das Acheuléen wurde nach dem französischen Fundort St. Acheul benannt, in dem der erste bekannte Faustkeilfund von Boucher de Perthes gemacht wurde. In Afrika begann die Epoche vor etwa 1,5 Millionen Jahren, als Faustkeile den Geröllgeräten der vorausgegangenen Oldowan-Produktion den Rang abliefen, und endete vor etwa 200.000 bis 100.000 Jahren, wobei einige Exemplare wohl bis vor etwa 30.000 Jahren Verwendung fanden. Man schreibt uns vor allem dem Homo erectus (ab etwa 1,9 Millio- nen Jahren), aber auch dem archaischen Homo sapiens (ab etwa 500.000 bis 200.000 Jahren) zu. Somit ist der Faustkeil gemessen an der Dauer seiner Verwendung auch das erfolgreichste Gerät in der Geschichte der Menschheit.
Die Multifunktionalität der Faustkeile ist kaum abzustreiten. An meinem Äußeren sind noch Abnutzungsspuren zu erkennen; mir ist jedoch nicht mehr im Detail bekannt, welche im Rahmen steinzeitlicher Tätigkeiten wie Schaben, Kratzen, Schneiden, Bohren, Zerkleinern oder Werfen und welche erst später durch Umlagerungen, Sandschliff oder durch Sammlungstätigkeiten entstanden sind. Mikroskopische sowie physisch-chemische Untersuchungen würden sicherlich zu weiteren und detaillierteren Erkenntnissen über Verwendung und Herstellung führen. Damit können wir Steinartefakte dazu beitragen, steinzeitliche Lebensbedingungen und Alltagsprozesse wieder lebendig werden zu lassen.
Inzwischen sehe ich leider kaum noch das Tageslicht. Vor einigen Jahrhunderttausenden noch unersetzbare Werkzeuge und wertvolle Besitztümer, fristen wir heute ein Dasein als oft verstaubte Sammlungsobjekte in dunklen Regalen oder Kisten. Immerhin werden wir gelegentlich zu Forschungs- oder Ausstellungszwecken aufgesucht. Manchmal bringt man uns auch in den 6. Stock, in ein Seminar zu Studierenden, die uns kennenlernen möchten. Es ist nicht mehr so wie früher. Immer modernere, in der Herstellung einfachere und bessere Steinwerkzeuge und Steintechnologien verdrängten uns im Laufe der Zeit. Wir wurden nutzlos, viele unserer Art zerschlagen oder weggeworfen. Form und Bleibe gingen verloren. Wir hier in der Frankfurter Sammlung haben es dagegen noch ganz gut.
Kommt uns mal besuchen! Wir würden uns freuen!
André Luiz Ruivo Ferreira Burmann war 2014 Student der Vor- und Frühgeschichte Afrikas. Der Text entstand im Rahmen der Jubiläumsausstellung „Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe Universität“ und wurde im Katalog veröffentlicht. Dieses Objekt war in der Jubiläumsausstellung "Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität" 2014/2015 zu sehen. Der erläuternde Text wurde für die Ausstellung bzw. den begleitend erschienenden Katalog verfasst.
Joachim Hahn: Erkennen und Bestimmen von Stein- und Knochenartefakten. Einführung in die Artefaktmorphologie, Tübingen 1993.
Friedemann Schrenk: Die Frühzeit des Menschen. Der Weg zum Homo sapiens, München 2008.